Sabine Leidig
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Redetext

Artikel
Vorwärts… und nicht vergessen. Die Bedeutung von Karl Marx für linke Politik heute
29. Oktober 2018
„Linke Politik“ beziehe ich allerdings auf das Ganze der gesellschaftlichen Linken. Und was ist links? Für mich bedeutet es das gewissenhafte Arbeiten an einer Gesellschaft der Freiheit, Emanzipation oder Autonomie, der Gleichheit oder Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit oder Solidarität – immer bezogen auf alle Menschen weltweit. Marx − und Engels(!) − hinterließen uns wesentliche Grundlagen, aber kein „Erfolgsrezept“; sie schufen ein vielfältiges,großes, aber unvollendetes Werk; eine Werkstatt, in der verschiedene Theorien und wissenschaftliche Erkenntnisse verarbeitet wurden. Für linke Politik heute ist genau das nötig.

Ich schreibe nicht als Politikwissenschaftlerin mit akademischem Profil, sondern als Politikerin und „organische Intellektuelle“der Linken, mit praktischen Erfahrungen auf unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Feldern. In Jugend- und Kulturgruppen politisiert – inspiriert von der „Kirche der Befreiung“, von Nach-68ern und der Friedensbewegung wurde ich in den 1980ern als junge Frau aktiv in der DKP und eignete mir Grundlagen des Marxismus an, arbeitete als technische Assistentin im Krebsforschungszentrum, war in der betrieblichen Interessenvertretung und jahrzehntelang ehrenamtliche und hauptamtliche Gewerkschafterin. Ab 2000 war ich bei Attac engagiert und arbeitete schließlich als Bundesgeschäftsführerin in diesem Netzwerk. Seit 2009 bin ich Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE mit den Arbeitsfeldern sozial-ökologischer Umbau, Verkehrspolitik und soziale Bewegungen.

„Linke Politik“ beziehe ich allerdings auf das Ganze der gesellschaftlichen Linken. Und was ist links? Für mich bedeutet es das gewissenhafte Arbeiten an einer Gesellschaft der Freiheit, Emanzipation oder Autonomie, der Gleichheit oder Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit oder Solidarität – immer bezogen auf alle Menschen weltweit.

Marx − und Engels(!) − hinterließen uns wesentliche Grundlagen, aber kein „Erfolgsrezept“; sie schufen ein vielfältiges,großes, aber unvollendetes Werk; eine Werkstatt, in der verschiedene Theorien und wissenschaftliche Erkenntnisse verarbeitet wurden. Für linke Politik heute ist genau das nötig:

„Marxismus ist keine Theorie unter anderen innerhalb des Spektrums heute konkurrierender politisch-sozialer und philosophischer Theorien. Er ist eine philosophisch begründete Form kohärenten begrifflichen Wissens, die auf ein perspektivisches Ganzes der Welterkenntnis gerichtet ist, deren ultimatives Ziel die Veränderung der Welt ist; ihrer Veränderung im Sinne der Errichtung eines von Angst, Hass, Hunger und Gewalt befreiten, zum Frieden gereiften terrestrischen Gemeinwesens.“ (Metscher 2017, S. 36)

Analyse und Kritik des Kapitalismus und seiner Krisenhaftigkeit sind unverzichtbar

Nachdem der Sozialismus des 20. Jahrhunderts gescheitert war, verschwand auch die Systemkonkurrenz und die Aufmerksamkeit der herrschenden Politik wurde darauf gerichtet, dem Kapital (sprich den Investoren) möglichst gute Bedingungen zu verschaffen – das neoliberale Dogma behauptete kapitalistisches Wachstum als einzige Quelle von Wohlstand.

Theoretische und praktische Kritik an dieser Entwicklung erwuchs vor allem aus der globalisierungskritischen Bewegung: Die krisenhafte Überakkumulation von Kapital wird analysiert, die u.a. enormen Druck zur Entfesselung der Finanzmärkte entfaltet. Im Zentrum der Kritik stehen die Deregulierung und der damit verbundene Abbau sozialer Rechte sowie die allumfassende Kommerzialisierung und Vermarktung (Kommodifizierung) durch Privatisierung öffentlicher Unternehmen, durch Umbau von Sozialsystemen oder „Inwertsetzung“ von menschlicher und außermenschlicher Natur. Die so genannten Freihandelsabkommen wurden richtig kritisiert als Brandbeschleuniger der Kapitalakkumulation, die zugleich das politische Gewicht zu Gunsten transnationaler Konzerne verschiebt. Im globalen Süden betrachten verschiedene soziale Bewegungen die Kämpfe gegen die globalen Abkommen und Institutionen als Fortsetzung der Kämpfe gegen koloniale und imperiale Ausbeutungsverhältnisse – aus gutem Grund. Die Zapatisten im mexikanischen Bundesstaat Chiapas beschreiten mit Landbesetzung, Selbstverwaltung und internationaler Vernetzung neue Wege der „Altermondialisation“. Ihre undogmatische, politische Haltung (fragend schreiten wir voran) inspirierte die Bewegung. Mit dem Versuch der WTO, ein Multilaterales Investitionsschutzabkommens (MAI) durchzusetzen, weitete sich der Protest auf eine breitere internationale Öffentlichkeit aus. 1997 veröffentlichte Ignacio Ramonet, der Chefredakteur von Le Monde Diplomatique, den programmatischen Leitartikel „Désarmer les marchés“: Die Märkte entwaffnen! Das war der Gründungsimpuls für Attac.
Linke Politik heute darf nicht hinter den Stand der Theorie und Praxis der altermondialistischen Bewegung zurückfallen.

Das aber ist ein wesentliches Problem der Sozialdemokratie – eingeschlossen Teile der Gewerkschaften. In Deutschland erhielt neoliberale Politik unter der rotgrünen Schröder-Regierung enormen Schub. Mit den Arbeitsmarktreformen der „Agenda 2010“, die darauf zielten, Kapitalinvestoren ein „besseres“ Angebot an Arbeitskräften zu machen: billiger und flexibler als in den Nachbarländern. Dazu Steuersenkungen, Marktliberalisierung und Riesterrente, um Vorteile in der Standortkonkurrenz unter „Wettbewerbsstaaten“ zu schaffen. Dass damit Krisen, in denen die Menschheit heute steckt, nicht gelöst, sondern verschärft werden, ist eine wesentliche Erkenntnis, ohne die es keine linke Politik geben kann.

Doch damit nicht genug. Es ist notwendig, die ökonomischen und ökologischen Verhältnisse zu durchdringen; die konkreten Prozesse der Wertschöpfung, der Produktion, Konsumtion und Reproduktion. Und sich mit den dazugehörigen sozialpsychologischen und ethischen Fragen zu beschäftigen.

So geht es beispielsweise beim Thema Digitalisierung keineswegs nur um das Problem, die Weiterbildung für Arbeitnehmer*innen zu optimieren, damit sie den neuen Anforderungen gerecht werden. Angesichts der enormen Produktivitätssteigerungen wäre die Verkürzung der Arbeitszeiten das allermindeste, damit der Zugewinn mehr Freiheit für alle bringen kann.

Aber linke Politik muss die gesamten Verhältnisse in den Blick nehmen, die der digitale Kapitalismus schafft: Von der vermeintlichen Demokratisierung der Gesellschaft durch die freie Verfügbarkeit von Informationen über die Illusion der kostenfreien, weil nicht physischen Herstellung digitaler Produkte bis zur Neudefinition des Verhältnisses materieller und immaterieller Güter. Der atemberaubende Erfolg von Firmen wie Facebook oder Google beruht auf der Bereitstellung digitaler Dienstleistungen, insbesondere aber auf der Sammlung von Daten. Dasselbe gilt für Amazon; bei diesem Trendsetter des digitalen Kapitalismus geht es um mehr als prekäre und entwürdigende Arbeitsbedingungen. Das Prinzip Amazon beeinflusst unser gesamtes Leben. So wie der Fordismus nicht nur die Arbeit am Fließband in Einzelprozesse zerhackt und unter den Gesichtspunkten der Optimierung neu zusammengesetzt hat. Das „Prinzip Amazon“ ist auch eine Reorganisation von Konsum- und Freizeitverhalten mit Auswirkungen auf die Produktion und Zirkulation. Amazon will unsere Lebensgewohnheiten in Gänze umstrukturieren: Der Mensch als umfänglich verwert- und stimulierbare Ressource: Kund*in, Arbeitnehmer*in und Datenspender*in.

Technologien, die unter diesen Vorzeichen zum Einsatz kommen − wie zum Beispiel selbstfahrende Autos − dienen weder dem Klimaschutz, noch tragen sie zu globaler Gerechtigkeit bei. Und dies nicht nur wegen der Ressourcen- und Abfallproblematik, die mit der ganzen Elektronik einhergeht. Solange die digitale Welt vom Interesse an Kapitalverwertung bestimmt ist, werden die Möglichkeiten nicht zur besten Information, Partizipation und Versorgung genutzt, sondern vor allem für Werbung und Manipulation. Sie führen zum Wachstum der „imperialen Lebensweise“.

Ich führe diesen Begriff hier ein, weil dieser aus meiner Sicht am besten die Herausforderungen für linke Politik auf der Höhe unserer Zeit umreißt. Uli Brand und Markus Wissen (2017) entfalten ihre Kritik der politischen Ökonomie und Ökologie und eine Krisentheorie des globalen Kapitalismus: Im Kern geht es darum, dass die Art und Weise, wie westliche Industrie- und Konsumgesellschaften Wohlstandsgewinne für breite Bevölkerungsschichten produzieren, die systematisch auf der Ausbeutung von Arbeitskräften und natürlichen Ressourcen im globalen Süden beruhen und dass diese „imperialen Verhältnisse“ wie selbstverständlich die Alltagspraxis der großen Mehrheit bestimmen.

Am Beispiel Verkehr und Mobilität lässt sich das gut illustrieren. Nicht erst der Diesel-Abgas-Betrug und nicht nur Kämpfe ums Öl, oder die Klimakrise machen die Automobilgesellschaft zum lebensbedrohlichen Problem. Ein großer Teil der Umweltzerstörung durchs Auto liegt vor dem ersten gefahrenen Kilometer. 1300 Kilogramm Metall und andere Rohstoffe stecken in einem Mittelklassewagen. Für viele dieser Rohstoffe bezahlen die Erzeugerländer mit der Zerstörung ihrer Umwelt, mit Kinderarbeit und Menschenleben. Für die Herstellung eines VW-Golf von 1,4 Tonnen Gewicht werden 4 Tonnen Luft verschmutzt, 19 Tonnen Abraumgestein verursacht und 232 Tonnen Wasser verbraucht. Während hier zu Lande wenigstens oberflächlich auf Umweltschutz und auf gute Arbeitsbedingungen geachtet wird, liegen die dunklen Seiten der Produktion anderswo. Zum Beispiel in Südafrika, wo einer der wertvollsten Rohstoffe der Welt gefördert wird: Platin. Das brauchen die Automobilhersteller für Katalysatoren, die Abgase reinigen. Aber was hier die Luft sauberer macht, verpestet dort die Umwelt. Und die Arbeitsbedingungen in den Platinmienen sind desaströs. Als 2012 tausende Minenarbeiter dagegen in Streik traten, drohten die Konzerne und die Regierung schickte bewaffnete Polizei: 37 Bergleute wurden bei diesem „Massaker von Marikana“ erschossen. In den Cobalt-Minen im Kongo schuften 40.000 Kinder, in Peru wird wertvolles Land für Kupferabbau zerstört, in Brasilien richtet die Förderung von Eisen schlimme Schäden an und in China leiden die Menschen, die in den Grafit-Höhlen graben unter schlimmsten Krankheiten.[1]

Die hierzulande herrschenden Lebensverhältnisse sind nur möglich geworden und lassen sich nur aufrechterhalten, weil Kosten, Nachteile, Lasten – also die Kehrseite(n) anderen aufgebürdet (externalisiert) und ausgeblendet werden.

Im Weltmaßstab betrachtet vollzieht sich unser Gesellschaftsleben auf einem stofflichen und energetischen Verbrauchsniveau, das nicht nur nicht „nachhaltig“ ist, sondern als irrwitzig, ja nachgerade wahnsinnig gelten muss. Ein Niveau, das sich wiederum nur deswegen halten lässt, weil sich der Umweltverbrauch vieler Milliarden Menschen auf dieser Welt weit unterhalb des hiesigen bewegt.

Damit ist ein zentraler Widerspruch benannt, der in jüngerer Zeit zugleich die Krise der Imperialen Lebensweise bedingt: Zum einen haben sich die Lebensverhältnisse in anderen Weltregionen deutlich verschlechtert. Mancherorts sind sie so untragbar geworden, dass sich die Betroffenen aufmachen, um anderswo bessere Bedingungen zu suchen. Zum anderen betreibt der globale Kapitalismus selbst die Ausbreitung ressourcen- und emissionsintensiver Produktions- und Konsummuster in breiteren Bevölkerungsschichten der sogenannten Schwellenländer – vor allem, aber nicht nur in China. Damit steigt der Bedarf an Rohstoffen, an (landwirtschaftlichen) Flächen, an Schadstoffsenken und an Arbeitskräften, die die Rohstoffe extrahieren und billige Lebensmittel produzieren, weiter:

„Die imperiale Lebensweise beruht auf Exklusivität, also darauf, dass nicht alle an ihr teilhaben. Gleichzeitig entfaltet sie eine starke Anziehungskraft auf all jene, denen die Teilhabe an ihr bislang verwehrt war und die vor allem ihre Kosten zu tragen hatten. Indem sie sich aber verallgemeinert, geht sie ihrer eigenen Existenzgrundlage verlustig: Das Außen, auf das sie aufgrund ihrer überproportionalen Inanspruchnahme von Natur und Arbeitskraft angewiesen ist, schrumpft im selben Maße, wie Teile des globalen Südens sich die imperiale Lebensweise zu eigen machen und dadurch nicht nur als Außen des globalen Nordens wegfallen, sondern selbst von einem Außen abhängig werden, auf das sie ihre Kosten verlagern können. In der Konsequenz verschärfen sich ökoimperiale Spannungen innerhalb des globalen Nordens ebenso wie zwischen diesem und dem globalen Süden.“ (Brand & Wissen 2018)

Karl Marx hat übrigens schon auf diese Tendenz hingewiesen, auch wenn er konkrete Folgen in vieler Hinsicht nicht vorhersehen konnte. Er wandte sich kritisch gegen die bürgerliche Ökonomie, aber auch gegen sozialdemokratische Vorstellungen, die allein die Arbeit als Grundlage von Reichtum sahen: „Die Kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen des Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Marx MEW 23, S. 530).

Mit Bezug auf die Krise sozialer und ökologischer Reproduktion schreibt der französische Philosoph Lucien Sève (2011): „[…] man kann die Umwelt nicht ohne die Menschheit retten und die Menschheit nicht ohne die Umwelt!“ Hinter dieser Dialektik darf linke Politik heute nicht zurückbleiben.

 

Dialektisches Denken als methodisches Prinzip gebrauchen

Ein Grundsatz der materialistischen Dialektik ist, dass die materielle Welt in ihrer Gesamtheit als eine dynamische begriffen wird, die permanenten Wandel unterworfen ist – selbst wenn dies in scheinbar statischen Zuständen nicht einfach zu erkennen ist. Alles fließt, alles ist (in) Bewegung. Die Triebfeder dieser Daseinsweise − vom Universum über das Klima bis zur menschlichen Gesellschaft − stellen Widersprüche dar. Erst aus dem Aufeinandertreffen, aus Einheit und Kampf von Gegensätzen, ergeben sich Bewegung und Entwicklung (in der klassischen Dialektik als Dreiklang von These, Antithese und Synthese).

Allerdings entwickelt sich diese von Widersprüchen angetriebene Dynamik der materiellen Welt nicht geradlinig, sondern auch in Sprüngen; der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das ist dann der „Umschlag von Quantität in Qualität“. Wobei wir für viele – gerade gesellschaftliche − Prozesse erst im Rückblick die Phase des Umbruchs erkennen können. Marx und Engels betrachteten diese „widersprüchliche Einheit“ der Gegensätze noch als ein Bewegungsprinzip des Fortschritts; mit Blick auf den menschengemachten Klimawandel gilt das sicher nicht: hier ist erkennbar, dass beständige Änderungen in einem komplexen System − in diesem Fall der Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre – ab einem bestimmten Punkt zu einem plötzlichen, qualitativen Sprung führen (Kipp-Punkte), der das System in einen gänzlich anderen Zustand überführt und die Erde für Milliarden Menschen unbewohnbar macht (vgl. Konicz 2014).
Leider sind auch innerhalb der Linken nicht selten „undialektische“ Haltungen anzutreffen; die eigene Position wird zum Nonplusultra erklärt, andere abgewertet; viel Energie fließt in Grabenkämpfe zwischen Strömungen, anstatt die Differenzen als Ausdruck real existierender Widersprüche zu begreifen. Und als Ausdruck der wirklichen Vielfalt von Arbeit, Lebensstilen, Migrationsgeschichten, Geschlecht, kurz: von gesellschaftlicher Pluralität. Friedrich Engels bemerkte, dass die Dialektik „neben dem Entweder-oder ebenfalls das Sowohl-dies-wie-jenes!“ kennt. (Dialektik der Natur, MEW 20, S. 482). Dieser Aspekt der dialektischen Methode denkt nicht nur Widersprüche zusammen, sondern betrachtet die Dinge und Verhältnisse im Zusammenhang und vor allem in ihrer dynamischen Wechselwirkung.

Ein „Dauerbrenner“ linker Debatten ist das Verhältnis zwischen dem parlamentarischen, reformistischen Weg und außerparlamentarischer, revolutionärer Opposition. Aber Revolution und Reform stehen nicht per se im Gegensatz zueinander. Je nach Kräfteverhältnis und gesellschaftlichem Kontext können sie einander ergänzen oder als Korrektiv dienen und dadurch linke Politik befördern. In bürgerlich-demokratischen Gesellschaften, wie der deutschen, braucht es sowohl systemkritische Parteien in den Parlamenten, als auch eine starke außerparlamentarische Opposition, die auf die Parlamente Druck ausübt und alternative gesellschaftliche Organisierungsprozesse befördert.

Es ist ein Grundproblem der linken Parteien, dass die dialektische Denkweise durch eine dualistische ersetzt wurde. Die wirklichen Widersprüche der Wirklichkeit will man in jeweils eine Richtung auflösen, statt den Widerspruch selbst anzugehen. Aktuell ist das in Bezug auf den neu erstarkenden Nationalismus zu beobachten: auf der einen Seite Sigmar Gabriel, der für einen neuen Heimatbegriff wirbt, oder Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, die die mehr nationale demokratische Souveränität und die Stärkung des Sozialstaates fordern, um den negativen Folgen der Globalisierung zu begegnen. Auf der anderen Seite die kosmopolitische Linke, die globalen Humanismus fordert und auch die Errungenschaften des Sozialstaates als Privileg gegenüber den Menschen im globalen Süden betrachtet.

Linke Politik braucht einen neuen Aufbruch, der diese falschen Alternativen überwindet. Der Konflikt zwischen Nationalstaat und globalem Kapitalismus ist nicht neu. Marx und Engels schrieben bereits im Kommunistischen Manifest: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler.“ Sie plädierten für einen Weg, der den Konflikt zwar lokal, aber mit der Perspektive internationaler Solidarität führt. So gesehen kann der Kampf um bessere Löhne, Arbeits- und Lebensbedingungen vor Ort – für Einheimische und Eingewanderte – Bestandteil internationaler Solidarität sein, wenn er nicht nur die „Standortkonkurrenz“ mildert, sondern eingebettet wird in eine Perspektive sozialökologischer Transformation. Deshalb kommt den Kämpfen um bessere Bedingungen und mehr Personal für Pflege, Bildung und Sorgearbeit eine so große Bedeutung zu – begriffen als Bestandteil einer notwendigen „Care-Revolution“, die das Kümmern umeinander und gute sozialen Beziehungen ins Zentrum rückt, anstelle von Konkurrenz und Statuskonsum. Linke Politik muss die „externalisierten“ Verhältnisse und die globale Arbeiterklasse ins öffentliche Bewusstsein heben. „Global denken, lokal handeln“ heißt heute auch, Auswege aus der „imperialen Lebensweise“ zu finden. Dazu müssen wir Konzepte für die Transformation der kapitalistischen Wirtschaft entwickeln und an möglich vielen Ecken und Enden Einstiege in den Ausstieg erkämpfen und erproben.

Ob damit in der Summe eine neue, ein solidarische, sozialistische Qualität erreicht wird oder ob ein historisches „window of opportunity“ Sprünge möglich macht, wissen wir nicht. Aber es ist eine Chance, die Welt zu retten.

 

Der Historische Materialismus fordert uns heraus

Geschichte ist keine „Naturgewalt“. Sie ist, nachdem der Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts gescheitert ist, nicht zu Ende, wie die Neoliberalen propagieren. Und sie besteht nicht aus einer notwendigen „Entwicklung zum Höheren“, wie manche Propagandisten eben dieses Sozialismus behaupteten. Geschichte wird von Menschen gemacht. Sie ist das Ergebnis unserer tätigen Praxis unter jeweils konkreten Bedingungen und im Rahmen der Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung.

Dieser Sommer 2018 war vielerorts der heißeste seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen: In Lissabon wurden 47 Grad im Schatten gemessen, während Aktivist*innen dort gegen neue Erdöl-Bohrungen protestierten. Afrika wird zum Backofen, aber Trump- und AfD-Anhänger leugnen den menschengemachten Klimawandel. Sie wollen weiter machen wie bisher: wirtschaften und leben auf Kosten anderer. Und in der Realität der großen Koalition findet genau das statt. Allen Beteuerungen und Abkommen zum Trotz. Die Ausbeutung der Natur wächst mit dem Wachstum der kapitalistischen Warenproduktion. Urwälder, Artenvielfalt, Gewässer und Böden werden vernichtet und mit ihnen die Lebensgrundlage von Millionen Menschen. Die Ausplünderung von Arbeiterinnen und Arbeitern in Eisenerz-, Coltan-Gold-Platin-Minen, in Textilfabriken, Obstplantagen oder Schlachthöfen im globalen Süden − der bis vor unsere Haustür reicht − gehört zum „Weiter so“. Und die Entwürdigung von Armen in unserem reichen Land gehört ebenso dazu, wie das Hamsterrad von Kommerz-Konsum und fremdbestimmter, sinnentleerter Arbeit:

„[…] der sich abzeichnende Umbruch des globalen Klimasystems; er müsste eigentlich das Kalkül der populistische Neuen Rechten durchkreuzen, das schlicht darauf abzielte, von der Leugnung des Klimawandels politisch und finanziell zu profitieren und darauf zu hoffen, dass die Apokalypse nach dem eigenen Ableben einsetzen möge. […] Und dennoch befinden sich die spätkapitalistischen Gesellschaften im Zentrum des Weltsystems derzeit in einem absurd anmutenden Identitätswahn, von dem die Neue Rechte profitiert, anstatt über die existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel zu debattieren. Burka, Minarett, Lederhose und Kruzifix scheinen wichtiger als der sich beschleunigende Anstieg des Meeresspiegels oder die rasant steigenden Temperaturen. […] Die zunehmende rhetorische Verrohung, die Barbarisierung der öffentlichen Diskussion, in dem schon mal über das „Absaufen“ von Menschen debattiert wird, fungiert als Vorstufe der ganz konkreten Barbarei.

Letztendlich sollen die Menschen des globalen Südens dort dem Hitzetod erliegen, anstatt in den Norden zu fliehen – dies ist die implizite Konsequenz der rechten Abschottungspolitik, die bereits jetzt in Ansätzen ein regelrechtes Outsourcing der Barbarei betreibt. Das ist die Konsequenz eines Extremismus der Mitte, der letztendlich in den Massenmord führt: Es ist der zum monströsen Scheitern verurteilte Versuch, am Bestehenden festzuhalten, das krisenbedingt in Auflösung übergeht. Grenzen dicht am Beginn einer Ära des Klimaumbruchs, der ganze Nationen auslöschen wird – dies ist der erste konkrete Schritt in den Genozid an all jenen Menschen, die in den kommenden Dekaden einen tödlichen Klimawandel zu entkommen versuchen werden. […]

Die Überwindung des amoklaufenden kapitalistischen Wachstumszwangs, der die konkrete Welt verbrennt, um abstrakten Reichtum zu akkumulieren, ist eine Frage des nackten zivilisatorischen Überlebens. Der identitäre Wahn, der Ausgrenzungsdiskurs der Neuen Rechten müsste einem breiten gesamtgesellschaftlichen Transformationsdiskurs weichen, bei dem postkapitalistische Formen der gesellschaftlichen Reproduktion diskutiert würden.

[…] Es gilt, das im Schoß der sterbenden spätkapitalistischen Gesellschaften herangereifte technisch-wissenschaftliche Potenzial von den Fesseln der kapitalistischen Produktionsweise, des uferlosen Verwertungszwangs des Kapitalverhältnisses, zu befreien. Anstatt für die Müllhalde zu produzieren, würden die effizienteste globale Ressourcennutzung und der Aufbau einer globalen Infrastruktur zur Bewältigung des Klimawandels in den Fokus der Reproduktion einer postkapitalistischen Weltgesellschaft rücken.“ (Konicz 2018)

Es ist dies der Umriss der historischen Verantwortung linker Politik heute. Mit Blick auf die Parteienlandschaft und die gewachsenen Organisationen – von Gewerkschaften über Sozial- bis zu den Naturschutzverbänden – wird offensichtlich, dass unser Potential nicht genügt und dass darüber hinaus andere, neue Formen und Formationen sytemüberwindender Theorie und Praxis gebraucht werden. Diese zu erkennen, zu benennen, einzubeziehen, zu vernetzen und gemeinsame Wirkmächtigkeit zu entwickeln ist eine zentrale Aufgabe linker Politik „auf der Höhe der Zeit“.

 

Es geht darum die Verhältnisse zu verändern – nicht nur das Verhalten

An dieser Stelle lohnt auch ein Blick auf „grüne Politik“: Im herrschenden Nachhaltigkeitsdiskurs wird immer wieder auf das fehlende oder unzureichende Bewusstsein verwiesen – als wenn es die Konsument*innen in der Hand hätten, was und wie produziert wird. „Verbrauchermacht“ ist eine Schimäre und entpolitisierend noch dazu. Die Biosupermärkte für den umweltbewussten Einkauf, die CO2-Zertifikate zur Gewissenberuhigung bei Flugreisen, „emissionsfreie“ Elektroautos oder noch ein „öko-fair-Kleiderlabel ändern nichts daran. Und all das ändert auch nichts an der Tatsache, dass der durchschnittliche ökologische Fußabdruck mit dem Einkommen wächst.

Längst haben sich die Konzerne strategisch auf „umweltsensible“ kaufkräftige Nachfrage eingestellt:

„Greenwashing, also das Bemühen der Konzerne, ihr schmutziges Kerngeschäft hinter schönen Öko- und Sozialversprechen zu verstecken, ist erfolgreicher denn je. Aber jenseits der grünen Scheinwelt schreitet die Zerstörung rapide fort. […] Der Verbrauch pflanzlicher, mineralischer und fossiler Rohstoffe hat sich zwischen 1980 und 2010 von 40 auf 80 Milliarden Tonnen verdoppelt.“ (Hartmann 2018, Klappentext.)

Die „normale“ Lebensweise im globalen Norden, die gezeichnet ist durch die kapitalistische Produktionsweise, löst die Menschen aus ihren traditionelle Bindungen heraus und zwingt sie, ihre Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, um zu leben. Subsistenzstrukturen, wie die eigene kleine Land- und Hauswirtschaft oder Kleintierhaltung, die noch in der Nachkriegszeit viele Existenzen prägten, sind verdrängt. Die Menschen sind alltäglich in die imperiale Lebensweise hineingezwungen, weil der Produktionsprozess, in dem sie ihr Einkommen erwirtschaften und die Waren, auf die sie angewiesen sind, auf der ungleichen Aneignung von Arbeitskraft und Natur andernorts beruhen. Und ebenso verhält es sich mit den psychosozialen „Anerkennungsstrukturen“ in einer Gesellschaft, in der die Größe des Hauses oder des Autos, die jeweils aktuelle Mode oder die entfernten Urlaubsreisen als Statussymbole verankert sind – gestützt u.a. von der hocheffizienten Werbeindustrie.

Allerdings existieren Unterschiede im Grad der Externalisierung und es gibt Spielräume im Verhalten, die politisiert werden müssen, um zur Veränderung von Verhältnissen zu gelangen. Es ist bedeutsam, dass immer mehr junge Leute bewusst auf ein eigenes Auto verzichten, weil sie ein Bewusstsein für die Schattenseiten der „freien Fahrt“ haben. Fahrradvolksbegehren, Initiativen für „Changing Cities“ oder für kostenlosen ÖPNV streiten vielerorts nicht ohne Erfolg für gerechtere Verkehrsverhältnisse. Linke Politik muss diese sozialökologischen Anstrengungen mit aller Kraft unterstützen und zugleich für die Entmachtung der Großaktionäre der „Schlüsselindustrie“ kämpfen: die Automobilbranche muss schrumpfen. Mit Hilfe der Kompetenz der Beschäftigten könnten Mobilitätsunternehmen entstehen, deren Ziel es wäre, für weniger Verkehr zu sorgen.

Ähnlich verhält es sich mit der Ernährung: Die vielen (meist jungen) Vegetarierinnen oder Veganer, die Food-Sharing-Initiativen, die brauchbare Lebensmittel aus Abfallcontainern bergen, sie halten Nestlé, Monsanto-Bayer, die Backshops und Discounter-Riesen nicht auf. Dennoch ist ihr Verhalten vom Spirit sozialökologischer Gerechtigkeit beseelt und darf nicht geringgeschätzt werden. Linke Politik muss hart gegen Massentierhaltung, Exportsubventionen und Glyphosat agitieren und zugleich eine Vorstellung davon entwickeln, wie gesunde Ernährung für alle in solidarischer Landwirtschaft verwirklicht werden kann. Die bestehenden Projekte sind dafür wichtige Partner.

Linke Politik muss praktisch sein und zugleich eine Utopie entwerfen. Sie muss die „imperiale Lebensweise“ schrittweise überwinden und auf eine solidarische Lebensweise und Kultur zielen. Und linke Politiker*innen sollten diese Haltung – bei allen (möglichst reflektierten) Widersprüchen – auch verkörpern.

 

Es geht um Klassenpolitik als verbindende, tätige Praxis

Um die Barbarei zu stoppen und die steinernen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen,werdenalle gebraucht, die ganze „Mosaiklinke“, das ganze Spektrum der Dissidenz, die Humanist*innen, Weltverbesserer und sogenannten „Gutmenschen“. Und es braucht einen universellen Klassenbegriff, der selbstverständlich die ganze kulturelle Vielfalt der abhängig Beschäftigten bei uns einschließt – von der alleinerziehenden Erzieherin über die H&M-Verkäuferin kurdischer Abstammung, bis zum schwulen Programmierer oder zum rumänischen Erntehelfer. Und selbstverständlich muss ein Begriff der Arbeiterklasse heute global sein und die Ausgeblendeten, die Externalisierten einbeziehen.

Das Erstarken der Rechten mag Ausdruck von Verunsicherung sein. Vor allem aber wird darin der Weg in die Barbarei sichtbar: Die (extrem ungleich verteilten) Privilegien im globalen Norden werden immer gewaltsamer gegen die „Habenichtse“ verteidigt. Konzentrationslager vor den Toren Europas, noch mehr Rüstung und Militär, Missachtung von Freiheits- und Menschenrechten inklusive – jüngst ein rechter Mob in Chemnitz, der Angst und Schrecken verbreiten kann.

Dagegen erhebt sich neu und massenhaft Widerspruch: Zigtausende demonstrieren gegen rechte Hetze und Rassismus, für unteilbare Menschenrechte gegen Polizeistaatsgesetze und menschenverachtende Abschottungspolitik. „Welcome-united“ bringt Geflüchtete als Verbündete auf die Straße. Dazu kommen Mieterinitiativen gegen unsoziale Wohnungspolitik oder Pflegestreiks gegen falsche Gesundheitspolitik – sie stehen ganz konkret für den Kampf um soziale Gerechtigkeit. Die erfolgreichsten gesellschaftlichen Bewegungen der Gegenwart sind getragen von einem links-ökologischen Geist. Zum Beispiel Volksentscheide für Stromnetze und Wasserversorgung in öffentlicher Hand, Widerstand gegen Freihandelsabkommen, Proteste gegen unsinnige Großprojekte, Kämpfe um Klimagerechtigkeit, gegen Tierfabriken, Insektensterben und Agrarkonzerne, Blockaden von Kohlegruben und Pipelines, Verkehrswendeinitiativen. Veränderungswille kommt vor allem dann auf, wenn sich die Abwehr des Falschen mit Visionen sozialökologischer Gerechtigkeit verbindet. Linke Politik muss aus diesen Auseinandersetzungen und Bewegungsimpulsen heraus die zerstörerischen Macht- und Produktionsverhältnisse in Angriff nehmen. Umverteilung ist wichtig, aber der soziale und ökologische Umbau der Wirtschaft ist unverzichtbar.

Es ist allerdings eine unleugbare Schwäche der Linken, dass es nicht gelingt, die Kräfte der Beschäftigten so zu stärken, dass diese selbst die Transformation vorantreiben. Einerseits sind es die „Arbeitsmarktverhältnisse“ welche diejenigen, die am ehesten Kampfkraft entfalten könnten, ruhig stellen, weil der feste Arbeitsplatz im erfolgreichen Konzern vor dem Hintergrund massenhafter Deregulierung und Prekarisierung als Privileg und Stabilitätsanker erscheint. Und andererseits gelang es der Linken bisher nicht, die anonyme Macht der Finanzmärkte zu entkräften. Der französische Philosoph Lucien Sève schrieb 2011 in einem Essay: „Die Revolutionierung der Produktion hat die Lohnabhängigen atomisiert, die quasireligiöse Unangreifbarkeit finanzieller Entscheidungen entwaffnet sie, deren Unausweichlichkeit demoralisiert sie.“ Der starke Wunsch, das alles zu verändern, führt am Ende zu nichts. Die allgegenwärtige Ohnmacht und die Lügen der institutionellen Politik nähren vor allem die Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit der Wähler.

So wächst mit dem Rentabilitätswahn der Glaube an die Unausweichlichkeit des Schlimmsten. Das System, das den Leitbegriff „Freiheit“ vor sich herträgt, folgt der Tina-Devise von Margaret Thatcher: „There is no alternative!“ Und in der Tat: Wie soll man sich von der Allmacht der Finanzmärkte und Ratingagenturen befreien, wenn nicht einmal die große Krise von 2008 zu nennenswerten Veränderungen geführt hat? Die aktuelle Untergangsstimmung, die mitten im Atom- und Internetzeitalter geradezu spätrömisch anmutet, ist wie ein Vorgeschmack auf die bevorstehende Katastrophe.

Linke Politik darf sich nicht mit der Forderung nach „Erhalt der Arbeitsplätze“ und damit nach Erhalt des Status quo begnügen! Linke Politik muss die Entmündigung und die strukturelle Misshandlung des Humanen durch den Kapitalismus anprangern. Und sie muss dringend radikale und vorstellbare Alternativen diskutieren − angeknüpft an real existierende Bedürfnislagen: die Meisten wollen mit ihrer Arbeit etwas Sinnvolles zur Gesellschaft beitragen; die Mehrheit wünscht sich mehr Zeitsouveränität und weniger Fremdbestimmung; etwa 80 Prozent sind der Meinung, dass es mit dieser Wachstumsgesellschaft eigentlich nicht weitergehen kann, hat aber keine Idee, wie „das Andere“ gehen kann. Linke Politik muss überzeugende Pläne entwerfen, wie die Beschäftigten in umweltschädlichen Branchen ohne Wohlstandsverlust und „erhobenen Hauptes“ aus den notwendigen Umbauprozessen herauskommen; oder besser: wie sie diese selbst gestalten können. Dazu muss die Eigentumsfrage gestellt werden, die Forderung nach Demokratie in der Wirtschaft und mit ihr die Systemfrage.

 

Meine wichtigsten Fragen und „Baustellen“

Die vierzig Bände der MEW (Marx-Engels Werke) enthalten keine stringent aufgebaute politische Theorie. Man findet darin auch keine genaue Beschreibung des Weges hin zu einem sozialistischen System oder zu den konkreten Bedingungen in einer angestrebten klassenlosen Gesellschaft. Hierzu äußerten sich beide eher allgemein und kursorisch. Und nachdem die ersten Anläufe im vergangenen Jahrhundert nicht „nachhaltig“ waren, ist es schwierig, Gewissheiten zu verbreiten. Deshalb möchte ich am Schluss versuchen, zusammenzufassen und einige weiterführende Fragen zu skizzieren.

Es ist klar: der Kuchen, der nach erfolgreichen Verteilungskämpfen relativen Wohlstand für relativ breite Schichten der Bevölkerung bei uns bedeutet, ist im Grunde ungenießbar: In ihm stecken Kriege um Öl; Sklavenarbeiter in Obst-Plantagen, in niedersächsischen Schlachtfabriken oder auf spanischen Gemüsefeldern; und Abermillionen Menschen, die der globale Konkurrenzkampf um Ressourcen und Märkte oder der Klimawandel ihrer Lebensgrundlage beraubt und zur Flucht zwingt. Es reicht also nicht, um die Verteilung des Kuchens zu streiten. Es geht um den Zugriff auf die Bäckerei(en), um zu bestimmen, was und wie produziert wird.

Wie aber gelingen Selbstermächtigung und Wirkmächtigkeit der Vielen!?

Als wichtiges Element zur wirkungsvollen politischen Einflussnahme erscheint die direkte Demokratie. Und es ist richtig und notwendig, viel mehr Entscheidungen – auch auf Bundesebene – den Bürger*innen selbst zu überlassen, schon um der politischen Frustration breiter Bevölkerungskreise entgegen zu wirken. Allerdings zeigt die Praxis in der Schweiz (wo über alle Angelegenheiten, inklusive die Verteilung der Haushaltsmittel, von allen Bürger*innen direkt abgestimmt wird), dass zwar der Einfluss einzelner Kapitalfraktionen geringer ist, dass aber sozialistische Perspektiven damit nicht schon aus sich heraus entstehen.

Es gibt andere Beispiele von linker, systemkritischer Selbstermächtigung: Neben den zapatistischen Landbesetzungen und der Selbstverwaltung in Chiapas ist es aktuell vor allem die „demokratische Autonomie“, deren geistiger Vater Abdullah Öcalan aus dem Gefängnis heraus diesen Aufbau von geschlechtergerechten, multiethnischen kommunalen und regionalen Strukturen initiiert hat, die auch auf sozialökologische Gerechtigkeit zielen. Dieser emanzipatorische (und nicht nur von der kurdischen Bevölkerungsmehrheit getragene) gesellschaftliche Aufbruch hat sowohl in Syrien (Rojava), als auch im Südosten der Türkei (Kurdistan) beeindruckende Veränderungen des Alltags und der Politik bewirkt – jenseits der staatlichen Macht. Auch wenn inzwischen die massive Repression und militärische Intervention Erdogans vieles blockiert, kann linke Politik davon lernen; genauso wie aus den gemischten Erfahrungen in Griechenland, wo „solidarity for all“ konkrete Lebenshilfe von unten organisiert und viel Menschen aktiviert hat, was den Wahlerfolg von Syriza überhaupt nur möglich machte.

Interessant ist auch die „Eigenmächtigkeit“, mit der die Stadträte von Kopenhagen oder Paris Verkehrsinfrastruktur gegen die Vorherrschaft der Autos umbauen oder die Bürgermeister*innen von Genua oder Barcelona sichere Häfen für Flüchtlinge anbieten – getragen von der Mehrheit der Bürger*innen dieser Städte, aber jenseits der nationalen Regierungspolitik. Solidarity Cities oder Changing Cities – vielleicht ist es die Kommune, die am ehesten spürbar verändert werden kann? Und wäre ein weltweites Netzwerk sozialökologisch ausgerichteter, demokratisierter Stadtgesellschaften mit Repair-Cafés, Stadtgärten, gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften, kommunaler Unternehmen solidarischer Ökonomie usw. eine machtvolle Basis zur Überwindung des globalisierten Kapitalismus? Wie ist es denkbar, die Finanzmarkt-und Wachstumsökonomie zu unterlaufen?

Sicher geht kein Weg daran vorbei, dass linke Politik konkret und alltagsnah − in Stadtteilen, Dörfern und Betrieben − die Selbstorganisation und Wirkmächtigkeit der „kleinen Leute“ unterstützt. Und sie verbindet mit den „Expeditiven“, den unangepassten „revolutionären Charakteren“, denjenigen, die Neues wagen, die ohne Rücksicht auf Konventionen und ohne Angst um die materielle Sicherheit bewusst zur solidarischen Lebensweise beitragen, in Nachbarschaften beraten, wie man sich gegenseitig am besten hilft, was vom Schulamt gefordert wird, welche Straße als nächstes autofrei werden soll und wo die Bushaltestelle hin muss etc. Wäre das ein Anfang für die „Assoziation freier Individuen“, von der Karl Marx träumte (3. Feuerbachthese)?

Sind wir lernfähig genug, um uns aus der bürgerlichen Gesellschaft herauszuarbeiten? Welche Persönlichkeiten braucht es, die neben scharfer Analyse der Misere auch in der Lage sind, Menschen zur Veränderung ihres Tuns zu motivieren, Selbstvertrauen zu wecken, Kooperation zu organisieren? Sie müssten erkannt und (aus-)gebildet werden. Schließlich muss eine linke politische Kultur entstehen, die von Achtsamkeit geprägt ist, die Wertschätzung vermittelt, konstruktive Kritik und Selbstkritik ermöglicht, auf Pluralität und Konsens setzt. Eine Kultur der Freundlichkeit:

„Wenn die Subjekte nicht dazu beitragen, ihre Welt, in der sie leben, mit der Perspektive der individuellen wie kollektiven Befreiung zu verändern – dann wird diese Welt sie bis zur Unmenschlichkeit verändern.“ (Sève 2016, Klappentext)

 

Literatur

  • Brand, Uli; Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise – Zur Ausbeutung von Mensch und Natur, München (oekom).
  • Brand Uli, Wissen, Markus (2018): „Nichts zu verlieren als ihre Ketten“? Neue Klassenpolitik und imperiale Lebensweise, Zeitschrift LUXEMBURG 01/2018
  • Hartmann, Kathrin (2018): Die grüne Lüge – Weltrettung als profitables Geschäftsmodell, München (Karl Blessing Verlag).
  • Konicz, Tomasz (2014): „Die Dialektik des Klimawandels – Wie quantitative Änderungen der Treibhausgaskonzentration zu qualitativen Umbrüchen im globalen Klimasystem führen können“. – http://www.heise.de/tp/features/Die-Dialektik-des-Klimawandels-3364883.html.
  • — (2018): „Klima für Extremismus.“ – http://www.heise.de/tp/features/Klima-fuer-Extremismus-4127330.html.
  • Marx, Karl; Engels, Friedrich (MEW): Marx-Engels Werke und Briefe (MEW), Berlin (Dietz Verlag) 1958 ff.
  • Metscher, Thomas (2017): Integrativer Marxismus, Kassel (Mangroven Verlag).
  • Sève, Lucien (2011): Der Mensch im Kapitalismus“, in: Le Monde diplomatique, 11. 11. 2011. – https://monde-diplomatique.de/artikel/!220323
  • — (2016): Die Welt ändern – Das Leben ändern. Neuausgabe von Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Hamburg (Argument Verlag).

Der vorstehende Beitrag ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung des Vortrags über Die Bedeutung von Karl Marx für linke Politik heute bei der Tagung der Internationalen Erich Fromm-Gesellschaft vom 1. bis 3. Juni 2018 in Trier.

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