Sabine Leidig
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Redetext

Als Wahlbeobachterin in Kurdistan
9. April 2019

Bericht von der Kommunalwahl in der Türkei am 31. März 2019

 

Auf Einladung der HDP hatten sich etwa 85 Freund*innen auf den Weg gemacht. Etlichen wurde die Einreise verweigert, einige wurden wohl vorübergehend festgesetzt, angekommen sind 72. Die größte Gruppe war eine Delegation der Gewerkschaft Cobas aus Italien. Aus Spanien und aus Frankreich einige, aus Norwegen ein sozialdemokratischer Abgeordneter mit Begleitung. Aus Deutschland waren wir zehn – einige von der Grünen Jugend und eine MdB von Bündnis90/Die Grünen; und außer mir noch drei Landtagsabgeordnete der LINKEN. Elisabeth Kula und Heide Scheuch-Paschkewitz aus Hessen waren zum ersten Mal dabei, sie wurden beim Umsteigen am Flughafen Izmir von der Polizei festgehalten und konnten schließlich erst auf Intervention der Fluggesellschaft weiterreisen.

 

Mein Einsatzort

Wir sind zunächst alle nach Diyarbakir gereist. Dort versammelten wir uns am Samstag vor der Wahl in der Parteizentrale der HDP. Ein wahrer „Taubenschlag“, in dem junge und alte Aktivist*innen ein- und ausgehen, beim Tee Pläne schmieden, und solidarische Unterstützung für drei hungerstreikende Abgeordnete organisieren, die im selben Haus gegen die Isolationshaft von Herrn Öcalan und anderen protestieren. Das mehrstöckige Haus mitten im Wohngebiet wird von Polizeispitzeln abgehört und beobachtet, vor der Tür sind ein Panzerwagen und ein Wasserwerfer postiert. Bevor die Gruppen und Teams eingeteilt wurden, hat uns die Vorsitzende der Frauenorganisation begrüßt und über die politische Lage informiert.

Ich war dann zusammen mit Hakan Tas (MdL Berlin) in Batman und in Hasankeyf* unterwegs. Begleitet wurden wir von Demir, dem Bürgermeisterkandidaten (und jetzigen Bürgermeister!) von Batman. Demir ist ein Augenarzt, von HDP-Anhänger*innen wurde er in basisdemokratischer Abstimmung auf Platz zwei der Männerliste gewählt.

Außerdem begleitete uns Sabir Özdemir, der eigentliche Favorit, der 2014 mit großem Erfolg für 5 Jahre zum Bürgermeister gewählt worden war, aber eineinhalb Jahre später von Erdogan abgesetzt wurde. Nach seiner Absetzung hatte er noch ein Jahr mit der Co-Bürgermeisterin zusammen weitergemacht, sich den Zugang zum Rathaus erkämpft, Bürgerversammlungen abgehalten, Probleme gelöst… bis die Repression immer stärker wurde. Die Co-Bürgermeisterin, eine alleinerziehende Mutter mit Kleinkind, konnte den massiven Einschüchterungen nicht standhalten und zog sich zurück. Sabir wurde kurz vor dieser Kommunalwahl mit Mehrfachanklagen vor Gericht gestellt und so als Kandidat kaltgestellt. Vor den Wahllokalen wurde er sofort erkannt, begrüßt, umringt – vor allem in den ärmeren Stadtteilen.

 

Mein Eindruck vom Ablauf der Wahl

Wenn 10.000 Funktionär*innen einer Partei (der HDP) willkürlich ins Gefängnis geworfen werden, wenn demokratisch gewählte Bürgermeister*innen abgesetzt, verhaftet und vertrieben werden, wenn 100.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst entlassen oder versetzt werden, kann die Einschüchterung kaum größer sein, überhaupt für die HDP zu kandidieren! Erdogan hat im Wahlkampf darüber hinaus alle Oppositionskräfte als Terroristen bezeichnet und damit massiv bedroht. Die kurdische Region war in Ausnahmezustand versetzt: Versammlungen und Kundgebungen waren verboten oder wurden aufgelöst. Der Wahlkampf war für die HDP auf Socialmedia und Hausbesuche begrenzt, während die AKP alle großen Medien zur Verfügung hat – das ist alles andere als fair.

Schließlich hat Erdogan offen damit gedroht, dass Kommunen, deren Bürgermeister*innen ihm nicht genehm sind, der Geldhahn zugedreht wird. Das Gemeindefinanzierungsgesetz wurde so geändert, dass die finanzielle Autonomie (über Steuerzuweisung pro Einwohner) praktisch abgeschafft ist. Ausgaben und Stellenbesetzungen müssen von der Zentralregierung genehmigt werden. Das ist natürlich auch Manipulation der Wähler*innen.

Am Wahltag selber sah ich – im Unterschied zur Nationalwahl – kaum martialische Präsenz von Militär und Polizei vor den Wahllokalen.

 

Besuch der Wahllokale

Wir konnten dreimal hinein in die Schulen und direkt an der Urne mit den Wahlhelfer*innen sprechen. Mehrfach wurde uns von Polizisten der Zugang zum Gebäude untersagt. Das wurde so ähnlich auch von den anderen berichtet. Allerdings hatten wir ja keinen offiziell anerkannten Status.

Auffällig war, dass wir drei hessischen Genoss*innen in Diyarbakir von Spitzeln „begleitet“ wurden, die wohl den Auftrag hatten uns auszufragen (auf Deutsch). Aber als ehrbare Frauen lassen wir uns natürlich nicht von wildfremden Männern anquatschen 😉

 

Bewertung des Wahlergebnisses

Zuallererst finde ich es wirklich enorm, dass die HDP wieder so viele Rathäuser gewonnen hat. Das zeigt eine sehr starke Verankerung in der Bevölkerung. Die Partei ist im besten Sinne populär. Allerdings ist die Frage offen, wie unter den krass antidemokratischen Bedingungen der Kriminalisierung und Entmachtung gewählter Gremien, Politik für die Bevölkerung umgesetzt werden kann. Auf meine Frage dazu, meinte Demir, dass die Beratung mit den Menschen in den Bürgerversammlungen entscheidend sei. Dort werde man diskutieren, was unter den Bedingungen am wichtigsten ist und wie man handlungsfähig bleibe.

Sehr bemerkenswert finde ich, dass die HDP mit der (kurdenfeindlichen) CHP informell den Verzicht auf konkurrierende Kandidaturen verabreden und das gegenüber ihren Anhänger*innen erfolgreich kommunizieren konnte. Ohne die Stimmen der HDP, hätte die CHP in einigen Städten im Westen sicher nicht die Mehrheit gewinnen können – vor allem nicht in Istanbul.

Nun braucht es Aufmerksamkeit, internationale Unterstützung und Druck auf die Bundesregierung, damit Erdogan nicht wieder zuschlagen kann. In der Partei Die LINKE gibt es Überlegungen, kommunale Kontakte zu intensivieren und eventuell auch eine Delegation in HDP-Rathäuser zu organisieren, um mehr Öffentlichkeit zu erreichen.

 

Zu den Hungerstreiks

Wir haben Leyla Güven zu Hause besucht: am 143. Tag ihres Hungerstreiks. Es hat mich sehr erschüttert, diese großartige Aktivistin für Frauenrechte und Demokratie so zu erleben. Und zu wissen, dass sich ihr landesweit mittlerweile etwa 7.000 Menschen angeschlossen haben. Zentrale Forderung ist die Aufhebung der illegalen Isolationshaft von Herrn Öcalan und anderen, denen seit Jahren jeglicher Kontakt zu Angehörigen oder Anwälten verwehrt wird. Darüber hinaus geht es um das Recht auf rechtmäßige Behandlung für alle Kurd*innen und politischen Gefangenen. Der Hungerstreik ist ein Akt der Verzweiflung, weil so viele Bemühungen – auch gegenüber der Europäischen Union – keinen Erfolg hatten.

Ich halte diese Entscheidung für falsch, weil niemand von diesen Genoss*innen verzichtbar ist. Es sind auch keineswegs kollektive Beschlüsse oder die politische Linie der HDP. Aber selbstverständlich teile ich das Anliegen der Hungerstreikenden.

Wir müssen immer wieder die unsägliche Kriminalisierung der PKK auch hier zu Lande thematisieren. Im Windschatten dieser „Dämonisierung“ werden schlimmste Verstöße gegen Menschenrechte und Gesetze unter den Tisch gekehrt.

 

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*zu Hasankeyf

Hier haben die Bewohner*innen – unterstützt von vielen Initiativen aus aller Welt – viele Jahre gegen ein monströses Staudammprojekt gekämpft. Die Gemeinde Hasankeyf ist eine der ältesten noch bewohnten menschlichen Siedlungen der Welt, mit Höhlenhäusern, die vor 12.000 Jahren errichtet wurden. Dieses Kulturdenkmal wird – nach dem Willen der türkischen Regierung – demnächst im Wasser des Stausees versinken.

Mehr Infos: https://www.fr.de/politik/hasankeyf-uralte-kulturen-werden-ueberflutet-11792332.html